,Heimat‘: eine Begriffsanalyse
Vorwort der Herausgeberin
Abstract
,Heimat‘ ist ein polyvalentes Wort, das man im öffentlichen Raum in letzter Zeit immer öfter hören kann. Es taucht in verschiedenen Kontexten auf: Landeskunde, Werbung in Zusammenhang mit der Herstellung von idyllischen Stimmungsillusionen, Sozialpolitik, Flüchtlingsproblematik, Integrationsprozesse, Identitätsbildung, etc. Dementsprechend kommen verschiedene Aspekte des Begriffs ,Heimat‘ zum Vorschein.
Einen Grund für die Auseinandersetzung mit diesem Begriff bietet nicht zuletzt das Bedürfnis, sich selbst in seiner Eigenart zu begreifen und von dem Anderen als Fremden abzugrenzen. Im Spiegel der Heimatvorstellungen sich selbst zu erkennen bildet eines der verbreiteten Motive für die Zuwendung zu diesem Thema. Die Heimat-Diskurse scheinen außerdem ein Mittel zu sein, die existenziellen Sorgen, die manche haben, direkter zur Sprache zu bringen: die Angst vor dem Verlust traditioneller Lebensordnungen, vor den Veränderungen, vor der Verschlechterung der Lebensbedingungen usw. In der theoretischen Auseinandersetzung mit dem Thema ,Heimat‘ zeigt sich eine Doppelstruktur: Sie ist sowohl geschichtsorientierte Vergewisserung eines Vergangenen, eines Schicksals (wenn man will), wie auch Gegenwartsdiagnose. Die Heimatproblematik ruft Interesse auf verschiedenen sozialen Ebenen hervor: Auf der Seite des Individuums bildet Heimat eine alltagsweltliche Bezugsgröße zum direkten Lebens- und sozialen Umfeld, die Bestandteil einer Biografie sind und den Menschen einen gewissen Halt geben. Auf der anderen Seite ist sie ein Thema in der Politik und hier kann man nicht selten beobachten, dass ,Heimat‘ durch Konservative und Rechtspopulist*innen in einen problematischen Kontext rückt.
Ein oberflächlicher Blick auf gegenwärtige Heimatdiskussionen und Heimatsdiskurse würde bereits genügen, um festzustellen, dass der Heimatbegriff ein ambivalenter ist – ob Heimat als bereits bestehende Herkunfts- oder noch kollektiv zu schaffende Ankunftsheimat verstanden wird. Dieser Ambivalenz scheint die Vorstellung zugrunde zu liegen, dass Heimat grundsätzlich ein Raum – Ort, Territorium, Wohnsitz, Umgebung – ist. Mit dem Raum werden dann verschiedene symbolische Gehalte assoziiert und verschiedene funktionale Bestimmungen verbunden, die das Konzept ,Heimat‘ bilden.
Vor diesem Hintergrund ist zu fragen, ob es zu der Vorstellung von Heimat als einem räumlichen Objekt mit bestimmten ,sekundären‘ symbolischen Eigenschaften wie Identitätsgröße, Lebensordnung, Traditionsressource etc. eine Alternative gibt. Vor allem zwei Aspekte sollen dabei ins Zentrum rücken: 1) Wo siedelt sich ,Heimat‘ ontologisch, das heißt zwischen Realität und Imaginärem an? 2) Inwieweit kann ,Heimat‘ als Mythos betrachtet werden?
Die ,Realität‘ oder zumindest ,Wirklichkeit‘ der Heimat kann problematisiert werden, ausgehend beispielsweise von der Annahme, dass das Wort ,Heimat‘ – sei es retro- oder prospektiv betrachtet – unter anderem ein Erlebnisausdruck ist. Als Erinnerung erweist sich Heimat als ein utopischer Lokus der Sehnsucht – ein identitätsstiftender, aber nie real da gewesener. Als zukunftsgerichteter Traum oder Plan ist Heimat eine Projektion des Wunsches nach Geborgenheit. Auch in der Gegenwart ist Heimat nicht auf eine Summe von Gegenständen reduzierbar: ,Heimat‘ ist und bleibt wesentlich individuelle Wahrnehmung der Gegenstände, die allerdings kollektiv bzw. politisch und vor allem kulturell (Dichtung, Musik, Film etc.) immer neu inszeniert bzw. dekonstruiert und dennoch als eine Art Container unabänderlicher Traditionen beschworen werden.
Bei der Analyse, inwiefern Heimat ein Mythos ist, erstreckt sich die Untersuchung auf die genauere Bestimmung des Mythos, auf die Präsenz der mythischen Denkstrukturen in der alltäglichen Erfahrung sowie auf das Verhältnis zwischen Imaginärem und Mythischem insbesondere in der politischen Kultur. So kann eine Untersuchung des Heimatbegriffs zur weiteren Klärung des Verhältnisses zwischen persönlicher und kollektiver Identität, zwischen politischem Mythos und politischem Imaginärem beitragen. Dahinter steht die Frage, warum mythische Erfahrungsformen für das gegenwärtige Denken überhaupt attraktiv sind: Stellt der Mythos etwa einen anderen Typus von Vernunft als das rationale Denken dar und ermöglicht anderes, dem Massenbewusstsein konformes Begreifen von Wirklichkeit? Zu fragen ist außerdem, ob es alternative Analysewerkzeuge zu den sozial-geographischen und sozial-psychologischen Interpretationen von ,Heimat‘ gibt. In diesem Zusammenhang kann beispielsweise auf das Spezifische des Heimat-Narratives aus einer hermeneutischen Perspektive, die die Begriffe ,mytho-poetische‘ (Giambattista Vico) und ,evozierende‘ (Georg Misch) Rede verwendet, eingegangen werden. Eine reflektierte Auseinandersetzung mit dem Mythos ,Heimat‘ soll im Allgemeinem dazu beitragen, ihn einerseits dank der Aspektanalyse zu verstehen und andererseits seine einseitige Vereinnahmung durch Identitätspolitiken zu problematisieren.
Dies sind nur einige wenige Fragen, die die Autoren dieses Sonderheftes seit längerem beschäftigen. Das Gespräch erfolgt interdisziplinär. Es ist auf keinen Fall abgeschlossen und lädt zum weiteren Nachdenken ein.
Ganz besonders möchte ich mich bei Frau Bettina Kumpan für die tatkräftige und engagierte Unterstützung bei der Organisation der Tagung und der Vorbereitung dieses Sonderheftes bedanken.